Das neue Credo unter Musikjournalisten ist weniger mit Vergleichen, mehr mit Eindrücken, weniger mit einer Einordnung, mehr mit einem Gefühl zu schreiben. Jedes Werk steht für sich. Schwierig bei Lindemann. Wir geben uns aber größte Mühe, “F&M” in größtmöglicher Abgrenzung zu Lindemanns kleiner Zweitband mit seinen fünf feuerspeienden Kollegen zu betrachten. Wäre ja auch ein bisschen unfair seinem Co-Piloten und Multiinstrumentalisten Peter Tägtren gegenüber.
Mit “Steh auf” geht es mit ordentlich Wumms los. Irgendwo zwischen R… mooment! Irgendwo zwischen einem Riff, das man im ersten Atemzug eher ins Indieradio packt und metal-esquen, stampfenden Gitarrentürmen, ist der Song ungewöhnlich funky.
Dazu gehörig Wut im Bauch über jemand unbekannten, dem das Aufstehen und Losgehen scheinbar nicht so leicht fällt. Der Refrain eignet sich hervorragend als Weckerklingelton, danach sitzt man kerzengerade im Bett.
Alte Bekannte im Reiche des Lyrikkannibalen Lindemann
“Ich weiß es nicht” ist dann etwas düsterer und monotoner. Ein klagende Synth im Hintergrund, Disko-hafte Sounds im Refrain. Erinnert ein wenig an Fla..n Aus! Pfui! Eigenständige Band. Jedenfalls gab es irgendwann mal in den Neunzigern so einen Song, der “Du hast” hieß und “Ich weiß es nicht” ist sein klein beliebener Cousin.
“Allesfresser”und “Blut” sind inhaltlich alte Bekannte im Reiche des Lyrikkannibalen Till Lindemann. Dazu melancholische Gitarren, mal Achtziger Ballade, mal Hymne, das ganze hat dazu ganz schön Feuer unter’m Hintern. “Knebel” tritt dann mit sachter Lagerfeuerwesterngitarre schön auf die Bremse, nach dem ganzen Geballer kann man sich auch mal kurz erholen. Aber ..”ich mag dich mit einem Knebel in dem Mund”. Nun ja. Wie so oft, bleibt offen, ob dieses Mögen, erotischer oder gewaltsamer Natur ist. Eindeutig wäre ja auch langweilig.
Mit Lindemann durch das Großraumbüro schwofen
“Ach so gern” ist eine echte Überraschung. Man möchte da doch fast die Bürositznachbarin oder den Sitznachbarn zum Tanz auffordern und zu Lindemanns romantischem “Besessen so von Paarungstrieb” durch das Großraumbüro zu schwofen. Auch “Schlaf ein” ist wie “Knebel” ein sehr ruhiges Lied, mit bedrohlicher Märchengeschichte, Glocken und Streichern, die das ganze hymnisch machen und einem ungewöhnlich versöhnlichen “Schlaf ein” im Refrain.
“Gummi” zieht das Tempo dann aber wieder auf die Headbangerseite. Mehr Autobahn geht kaum. Stichwort Autobahn: “Platz Eins” hat verdächtig viele Elemente der großen deutschen Elektroacts, die Synthesizer in die Welt trugen… Ach, Credo hin, Credo her… Kraftwerk werden hier hofiert, ohne langweilig zu kopieren.
„Ich liebe das Leben, das Leben liebt mich nicht“
Sähe man – ohne Musik und Künstler zu kennen – ein Album mit den Titeln “Ich weiß es nicht” und dann jetzt “Wer weiß das schon”, man könnte auf Idee kommen, dem Texter vielleicht etwas Ideenlosigkeit zu unterstellen. Nicht in diesem Fall. Bis auf die Ähnlichkeit der Titel haben beide Lieder nichts gemeinsam. “Wer weiß das schon” ist eine schöne, sehr kraftvolle Ballade, mit dem Lindemann-typischen Pessimismus: “Ich liebe das Leben, das Leben liebt mich nicht”.
Das seltsamste Stück Musik der letzten 10 Jahre deutscher Musikgeschichte, “Mathematik”, darf dann zum Abschluss nicht fehlen. Zu dröhnenden Trap-Beats arbeitet Lindemann seine traumatischen Erfahrungen aus dem Mathematikunterricht ab. Wenn das mal nicht die eigenen Kinder entdecken, wenn es mal nicht so läuft in der Schule! Abgerundet wird das mit der “Pain”-Version des Schunklers “Ach so gern”. Jetzt gibt’s kein Schwofen mehr, sondern nur noch Schubsen. Gut so.